Sonntag, 1. März 2015

Christian Böhme und der "Neue Antisemtismus"

Christian Böhme vom Tagesspiegel unterstellt dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller, er stelle sich blind, weil er gesagt habe, er nehme die Gefährdung von Juden in bestimmten Gebieten Berlins nicht so wahr, wie es der Zentralrat der Juden in seiner Warnung formuliert habe. Für Böhme ist der offene Antisemitismus in Berlin ein ausgemachtes Ding; Offensichtliches werde von Müller verdrängt.

Desweiteren unterstellt Böhme die Existenz von No-Go-Arealen für Juden, eine Beunruhigung DER Juden in Deutschland und also auch in Berlin und einen muslimischen Antisemitismus.

Das alles gibt es, und ein derartiges Gefüge ernst zu nehmen ist die Pflicht der Innenpolitiker Berlins und des Regierenden Bürgermeisters. Dann aber schreibt Böhme:
Aber wenn – wie während des Gazakriegs im Sommer geschehen – arabische Jugendliche auf deutschen Straßen „Tod den Juden“ skandieren, muss auch das alle alarmieren. Und es braucht eine starke Antwort darauf. Politik wie Gesellschaft sind gleichermaßen in der Pflicht.
Der Anlaß der Demonstrationen wird mit einem Einschub abgehakt, dann wird wieder zur Tagesordnung übergegangen. Böhme macht denselben Fehler, den die meisten Journalisten hierzulande machen: Er differenziert nicht zwischen Judentum, Zionismus und Israel. Wieder einmal wird die Ursache des Konflikts von den zionistischen Kolonialisten weggeschoben auf den den Arabern in Böhmes Augen wohl wesenseigenen Antisemitismus, dem Haß auf Juden, weil sie Juden sind. Wie Finkelstein in "Antisemitismus als politische Waffe" schreibt, ist das "Thema dann nicht länger die Inbesitznahme palästinensischen Landes durch Juden, sondern die arabische »Abwehrhaltung« gegenüber Juden. Auch die grundlegende Verantwortung für die Lösung des Konflikts liegt dann nicht mehr bei Israel, sondern bei der arabischen Welt." (Ebd., S. 72.)

Während des von Böhme erwähnten Gazakriegs 2014 wurden 2131 Palästinenser ermordet, davon 1473 Zivilisten (69,12%). 501 Kinder und 289 Frauen wurden von der moralischsten Armee der Welt umgebracht.

Das ist nicht Böhmes Thema, sondern der dümmliche Ruf "Tod den Juden", dessen Anlaß im Massenmord an Palästinensern begründet war.

In der Diskussion über Antisemitismus und Israel-Kritik wird häufig Bezug genommen auf einen Bericht der "Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit" (EUMC) mit dem Titel "Manifestations of Anti-Semitism in the European Union". Es handelt sich bei der EUMC nicht um ein Organ der EU, sondern um eine selbständige Einrichtung. Diese Organisation nun weigerte sich zunächst, die "Manifestations" zu veröffentlichen, worauf Kritik vom Jüdischen Weltkongreß auf die Entscheidungsträger einprasselte. Der Grund des Zurückhaltens des Papiers war der auch von Javier Solana erkannte Mangel "an schlüssiger Argumentation und empirischer Zuverlässigkeit" (Ebd., S. 75). Autoren der Studie waren Werner Bergmann und Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) der TU Berlin.

Die "Manifestations" entstanden während der israelischen Operationen "Defensive Shield" und der Belagerung des Flüchtlingslagers Jenin und "Determined Path". Dementsprechend häufig waren die Proteste in Europa. Zielsicher wurde als Antisemitismus identifiziert:
  • das Verbrennen einer israelischen Fahne,
  • das Einschlagen eines Schaufensters,
  • haßerfüllte Telefonanrufe bei der Botschaft Israels (alles in Belgien),
  • die Forderung der Unterstützung für die Palästinenser (Spanien),
  • eine palästinensische Flagge und ein Buch des Vertreters Palästinas in Italien während eines Kongresses der Kommunistischen Partei Italiens,
  • das "Palästinensertuch" ebendort,
  • das Hissen der palästinensischen Fahne auf dem Balkon der Residenz des Vorsitzenden der Europäischen Zentralbank, Wim Duisenberg, durch dessen Frau,
  • Anrufe und E-Mails an die israelische Botschaft in Portugal und
  • Flugblätter mit der Aufforderung, der Bewegung "Boykott, Divestment, Sanctions" zu folgen und keine israelischen Produkte aus den besetzten Gebieten zu erwerben. (Ebd., S. 77 f.)
Wieder wird der Anlaß der Proteste verdrängt, die teilweise unappetitlichen Vorgänge werden in den Vordergrund gestellt. Die kennt man ja, die Araber. Dummerweise will das mittlerweile in FRA umbenannte EUMC von dieser Studie nichts mehr wissen. Nach heftiger Kritik der "European Jews for a Just Peace" ist die "Arbeitsdefinition Antisemitismus" gründlich ausgemistet und mit allgemeinen Formulierungen überschwemmt worden. Dennoch: Für Deutschland wurden lt. überarbeiteter Studie 2001 18 antisemitische Vorfälle registriert, für 2002 28 und für 2003 16. Welche Ursache diese Schwankung haben könnte, wurde nicht untersucht.

Die Antonio-Amadeu-Stiftung verzeichnet folgende Angriffe und Anschläge (nur die Zahlen):
  • 2002:49
  • 2003:81
  • 2004:67
  • 2005:61
  • 2006:114
  • 2007:79
  • 2008:85
  • 2009:57
  • 2010:81
  • 2011:43
  • 2012: 34
  • 2013:72
  • 2014: 176
Auch hier gibt es Häufungen: 2003, 2006, 2008/2009, 2010 und 2014. Im Jahr 2006 ermordete die Israel Defense Force nach dem Einmarsch in den Libanon wenigstens 1125 Menschen, davon wenigstens 501 Zivilisten. 2008/2009 wurde Gaza bombardiert. Ungefähr 1400 Menschen starben, davon 926 Zivilisten (darunter 341 Kinder). 2010 erschossen israelische Soldaten neun Menschen an Bord einer Hilfsflottille, die sich in internationalen Gewässern befand. 2014 wurde Gaza erneut angegriffen, die Opferzahlen habe ich oben angeführt.

Böhme weiß das alles, und wenn er es nicht weiß, hätte er es nachlesen können. Das war ihm zuviel Arbeit. Der Bauch hat gewonnen. Oder er weiß, was sich gehört.