Sonntag, 24. März 2013

Die Tapferen im Nirgendwo

Gegenwärtig läuft eine Schmierenkomödie, die ausgerechnet den cdU-Politiker Ruprecht Polenz zum Ziel hat. Sein Verbrechen: Er reagierte auf seiner Facebook-Seite nicht schnell genug, nachdem ein Kommentator die Verbrechen der Nazis mit denen der Israelis gleichsetzte.

Der Tapfere, der im Nirgendwo zum Kampf gegen derartig antisemitisches Treiben -- nein, nicht des Kommentators, sondern Polenz' -- aufruft, verbreitet seine Weisheiten hier: Klick!

Nun ist ein Kommentar, wie ihn Polenz nicht schnell genug löschte oder löschen ließ, nicht das Schwarze unter dem Fingernagel wert, weil alle Israelis in einen Topf geworfen werden, also Uri Avnery mit denen in der moralischsten Armee der Welt, an die Amir Oren in seinem Artikel über (u. a.) das Studium der Taktiken bei der Aufstandsbekämpfung im Warschauer Ghetto erinnerte. (Er schrieb in Haaretz vom 25.1.2002:
In order to prepare properly for the next campaign, one of the Israeli officers in the territories said not long ago, it's justified and in fact essential to learn from every possible source. If the mission will be to seize a densely populated refugee camp, or take over the casbah in Nablus, and if the commander's obligation is to try to execute the mission without casualties on either side, then he must first analyze and internalize the lessons of earlier battles - even, however shocking it may sound, even how the German army fought in the Warsaw ghetto.)
Nichtsdestotrotz muß im trauten Bruderbund mit der Achse des Guten des sattsam bekannten Broderliners mal so richtig Frust abgelassen werden. Der Autor des Kommentars habe die Existenz von Gaskammern in Israel unterstellt. Da es die nicht gebe, unterstelle er außerdem, es habe sie in Deutschland nie gegeben, und außerdem sei es in Deutschland mittlerweile weit verbreitet, den Holocaust zu leugnen. Und überhaupt: Polenz sei dennoch schuld. Eine etwas verquaste Konstruktion, aber bitte.

Ein wenig ad hominem darf es auch sein: Der Kommentator auf Polenz' Facebook-Präsenz sei grammatikalisch völlig daneben. Gerd Buurmann selbst, so der Name des Opfer-Tapferen, scheint auch nicht viel über das "Dass" zu wissen, aber er ist der Gute. Sagt er.

Richtig interessant wird es, wenn sich Kommentatoren bei den Tapferen melden. Da wird geschwurbelt, daß die Heide wackelt, Geschichte wird auf den Kopf gestellt, Tatsachen werden schlicht geleugnet.

Ein Herr Theiner zum Beispiel schreibt von höchstens geringfügiger Benachteiligung israelischer Araber und lobt die humane israelische Politik gegenüber dem (Ghetto) Gaza, die dazu geführt habe, daß dort eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt existiere. Warum läßt dieser Zyniker den Eichmann nicht nachträglich mit dem Bundesverdienstkreuz auszeichnen? Immerhin sind 80% der Bevölkerung Gazas Flüchtlinge oder deren Nachkommen, die vor dem zionistischen Terror der Jahre 1947-49 flohen. Dort sitzen sie heute wie die Ratten, ehm, wie äußerte sich Eitan: Kakerlaken, in der Falle. Außerdem, so der ehrenwerte Herr, hätten die Israelis sehr viel mehr gute Gründe, gegen die Palästinenser vorgehen, als die Nazis, denn sie wollten ja Israel vernichten usw. usf. "Okkupation" fehlt im Vokabular dieses Un-Geists. Aber ihm kann und wird hier geholfen werden.

Ein sich "anti3anti" nennender, besonders human Gesinnter reagiert auf den Verweis auf einen kritischen Artikel eines jüdischen Amerikaners, der Zitierende dürfe "einen solchen Dreck" erst schreiben, wenn er Auschwitz überlebt habe. Tolle Gesinnung, das, und offensichtlich in Deutschland straflos möglich. Der tanzt auf den Gräbern von Auschwitz und tritt das Andenken der Ermordeten in den Dreck. Daß Buurmann dafür rechtlich verantwortlich ist, hat er selbst auf seiner Seite niedergelegt, aber der tanzt ja für die tapferen Guten.

Dummerweise unternimmt eine Mascha Mauer einen untauglichen Versuch, faktenbasiert zu argumentieren. Leider fehlen diese bei ihr, und leider haben Fakten auf der Tapferen-Seite nichts zu suchen; mehrere diesbezügliche Kommentare meinerseits wurde kommentarlos gelöscht -- wahrscheinlich wegen Faktenallergie und fanatischen Dummschwätzertums. Nun denn, los geht's.

Die Besetzung der West Bank und -- per effektiver Kontrolle -- Gazas ist ein Kriegsverbrechen. Der Sechs-Tage-Krieg wurde von Israel begonnen. Der Angriff wurde während der Kriegskabinettsitzung vom 2.6.-4.6.1967 beschlossen:
Wahrhaftig fragte Dayan, wie sich ein israelischer Erstschlag als Reaktion darstellen ließe. Vielleicht könne man etwas inszenieren? »Wir brauchen ein Alibi«, meinte auch Minister Bentov. Dayan antwortete: »Ich habe keine anderen Tricks auf Lager als zuzuschlagen. Falls jemand eine bessere Idee hat, werde ich mich ihr anschließen.« Zur Möglichkeit, ein israelisches Schiff als Provokation in den Golf von Akaba zu schicken, meinte Dayan: »Absoluter Selbstmord.« Allon fand, der Ministerpräsident solle den Staatschefs der Welt verkünden, dass die Ägypter angegriffen hätten. Minuten später werde Israel dann reagieren. Der Ministerpräsident werde zwar eine Lüge riskieren, die Wahrheit würden jedoch nur die Historiker erfahren. »Ich glaube nicht, dass die Amerikaner den Ereignissen auf den Grund gehen werden«, sagte Allon. 
In der Entschließung, die schließlich formuliert wurde - und über die, wie Eschkol betonte, die Geschichte ihr Urteil fällen werde -, hieß es, Israel gehe gegen einen »sich um das Land zuziehenden Ring der Aggression« vor. Eschkol und Dayan wurden ermächtigt, den Zeitpunkt des Angriffs festzulegen. »Mir fällt ein Stein vom Herzen«, schrieb Minister Gvati. Fast alle sprachen sich für diese Regelung aus. (Tom Segev: "1967. Israels zweite Geburt", S. 401, meine Hervorhebung.)
Mordecai Bentov nahm als Minister an den Besprechungen des Kriegskabinetts teil. Er äußerte nach dem Krieg:
This whole story about the threat of extermination was totally contrived, and then elaborated upon, a posteriori, to justify the annexation of new Arab territories. (Joseph L. Ryan: "The Myth of Annihilation and the Six-Day War", in: Worldview, September 1973, pp. 38-42.)
Aus der UN-Charta leiteten sowohl der UN-Sicherheitsrat (UNSC) als auch die Vollversammlung die Unzulässigkeit der Gebietserweiterung durch Krieg ab.

Daß die Besiedlung der okkupierten palästinensischen Gebiete dem Völkerrecht widerspricht, erfuhren wir zuallererst vom Rechtsberater des israelischen Außenministeriums, Theodor Meron: Original, englische Übersetzung:
[emblem]
Ministry of Foreign Affairs
Jerusalem,13 Elul 5727
18 September 1967

TOP SECRET

To : Mr Adi Yafeh, Political Secretary to the Prime Minister
From : Legal Adviser, Ministry of Foreign Affairs
Subject: Settlement in the Administered Territories

At your and Mr Raviv’s request, I am enclosing herewith a copy of my memorandum of 14.9.67 on the above subject, which I submitted to the Minister of Foreign Affairs. My conclusion is that civilian settlement in the administered territories contravenes explicit provisions of the Fourth Geneva Convention.

Regards,

[signed]
T. Meron

Copy: Mr A. Shimoni, Director of the Minister’s Office
(Meine Hervorhebung.)

Soso, die Siedlungen sind nach Einschätzung Theodor Merons völkerrechtswidrig. Wer hätte das gedacht? Die Tapferen im Nirgendwo nicht. Dennoch ist der Internationale Gerichtshof in seiner Advisory Opinion zur völkerrechtlichen Einschätzung der Apartheidmauer (ich komme gleich zu dem Begriff) zum gleichen Urteil gekommen: Okkupation, Siedlungen und Mauer widersprechen dem Völkerrecht: Klick! -- direkt von der Homepage Palästinas bei der UNO.

Nun zur Lage der palästinenischen Israelis. Diese sind von der Staatsbürgerschaft her als Nicht-Leumi, als ezrahut-zugehörig eingestuft. Damit gilt für sie eine Reihe von Gesetzen, die die Benachteiligung systemisch definiert. Im einzelnen sind das
  • das Law of Return von 1950. Es garantiert allen Juden der Welt das Recht auf Einwanderung nach Israel. Pikant ist die Bezeichnung "Return" aus zweierlei Gründen. Zum einen bestehen erhebliche Zweifel, ob es ein jüdisches Volk mit Kontinuität in Palästina überhaupt gibt (vgl. Shlomo Sand: "The Invention of the Jewish People"). Zum anderen gilt das "Rückkehr"-Gesetz eben nicht für die Palästinenser, die von den Zionisten 1947-49 und 1967 vertrieben wurden, obwohl Israel, um in die UNO aufgenommen zu werden, die Gültigkeit der Resolutionen 181 und 194 schriftlich bestätigte (siehe u. a. Henry Cattan: "Palestine and International Law. The Legal Aspects of the Arab-Israeli Conflict", pp. 128 f.). Damit ist Israels Mitgliedschaft in der UNO unter bestimmten einzuhaltenden Bedingungen festgestellt worden. Es ist schon ein Zeichen außergewöhnlicher Chuzpe, die Resolution 194 dafür zu verwenden, die Auswanderung sowjetischer Juden lautstark und mit großem Brimborium zu fordern und den Text danach wieder im Giftschrank verschwinden zu lassen.
  • Das Nationality Law von 1952 garantiert allen nach Israel eingewanderten Juden die israelische Staatsbürgerschaft. Nicht-Juden müssen, auch wenn sie in Israel gebürtige Palästinenser sind, darum ersuchen. Ob sie die Staatsangehörigkeit Israels erhalten, liegt im Ermessen des Innenministers. Seit 2002 gilt im Rahmen des
  • Nationality and Entry into Israel Law (2003) eine neue Ehepartnerregelung. Palästinensische Partner erhalten die israelische Staatsangehörigkeit ihres Gatten oder ihrer Gattin nicht mehr. Verbunden damit sind Deportationen der Betroffenen in die West Bank oder nach Gaza. Ein Beispiel für die damit verbundene Humanität israelischer Politiker ist die Ausweisungsaktion vom 24.1.2006 in Jaljulya. Selbst schwangere Ehepartner wurden deportiert. (Vgl. Ilan Pappé: "Die ethnische Säuberung Palästinas", S. 369 f.)
  • Das Population Registry Law von 1965 verpflichtet alle Nationalitäten in Israel, selbige zu registrieren. Die "Volkszugehörigkeit" wird im Ausweis vermerkt.
  • Das Absentee Property Law von 1950 gibt dem Staat das Recht, das Land und jeglichen Besitz geflüchteter Palästinenser dem jüdischen Staat zuzuführen. Das gilt auch für israelische Palästinenser, die sich im Nachbardorf aufhalten. Sie gelten als Abwesende.
  • Das Land Acquisition Law von 1953  enteignete ca. 400 palästinensische Dörfer. Sie stehen als Militärgebiet oder Siedlungsraum im Osten zur Verfügung.
  • Das Development Authority Law von 1950 ermöglicht ebenfalls die Enteignung palästinensischer Dörfer, wobei dem Jewish National Fund die Priorität eingeräumt wird. JNF und Jewish Agency erhalten durch das Gesetz quasi-staatliche Befugnisse; Land aus dem JNF wird regelmäßig und nach Belieben mit Land in staatlichem Besitz getauscht.
  • Das National Planning and Building Law von 1965 friert effektiv den palästinensischen Wohnungsbau ein und ermöglicht die Blockade selbst des Bohrens von Brunnen auf palästinensischem Land. Eine große Zahl palästinensischer Dörfer wurde reklassifiziert in "erlaubte" und "unerlaubte" Dörfer. Letztere erhalten weder Wasser noch Elektroenergie. Alle unerlaubten Dörfer können jederzeit abgerissen werden.
  • Das Land Acquisition in the Negev Law von 1980 konfisziert Tausende von Dunoms Beduinenland zum Zwecke des Baus jüdischer Siedlungen. Der Untertitel des Gesetzes lautet übrigens "Peace with Egypt".
  • Das Law of Political Parties von 1982 verweigert allen Gruppierungen die Registrierung als Partei, wenn sie den "jüdischen und demokratischen" Charakter Israels bezweifeln. Der Unterdrückte nennt damit seine Unterdrückung Freiheit. Orwells 1984 revisited.
Dazu paßt, daß der Gleichbehandlungsgrundsatz, den jede demokratische Verfassung enthält, aus dem Entwurf der Basic Laws von 1994 gestrichen wurde. Bis heute ist er nicht Handlungsgrundsatz israelischer Politik. Das bringt uns konsequenterweise zum Begriff Apartheid. Das israelische Staatsbürgerschaftsgesetz definiert unterschiedliche Staatszugehörigkeiten mit unterschiedlichen Rechten (siehe le'om vs. ezrahut). Damit gibt es eine systemische Benachteilung einer oder mehrerer ethnischer Gruppierungen gegenüber einer anderen. Das ist Apartheid. Dieser Meinung haben sich angeschlossen:
  • der ehemalige israelische Generalstaatsanwalt Michael Ben-Yair,
  • die ehemaligen israelischen Bildungsminister Shulamit Aloni und Yossi Sarid,
  • der ehemalige stellvertretende Bürgermeister Jerusalems, Meron Benvenisti,
  • der ehemalige israelische Botschafter in Südafrika, Alon Liel,
  • der Begründer des israelischen Journalismus, Danny Rubinstein,
  • Südafrikas Erzbischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu,
  • Südafrikas Vater der Bürgerrechte, John Dugard,
  • B’Tselem,
  • die Association for Civil Rights in Israel (ACRI) und
  • die Herausgeber von Haaretz.
Um das Leben der Palästinenser auf der West Bank auch nur ansatzweise nachempfinden zu können, ist eigentlich nur ein Blick auf die Willkür nötig, mit der das israelische Militär die Verhaftung von Minderjährigen vornimmt. Im Sprachgebrauch der israelischen Politik nennt sich das "administrative detention", die von jedem popeligen Gruppenführer vorgenommen werden kann.

Eine britische Kommission sah sich im letzten Jahr die Bedingungen an, die für die Administrativhaft gelten. Der Bericht mit dem Titel "Children in Military Custody" findet sich hier: Klick! Die Schlußfolgerungen (Klick!) sind eindeutig:
7. On the basis solely of legal differentials, we have concluded that Israel is in breach of articles 2 (discrimination), 3 (child’s best interests), 37(b) (premature resort to detention), (c) (non-separation from adults), (d) (prompt access to lawyers), and 40 (use of shackles) of the UNCRC. Transportation of child prisoners into Israel is in breach of article 76 of the Fourth Geneva Convention. Failure to translate Military Order 1676 from Hebrew is a violation of article 65 of the same convention.